6. März 2009

in der Kafkastraße war schnell eine Schmutzschicht auf die Mietshäuser gefallen. Das kam von der Industrie her, von den Schornsteinen, wie meine Mutter sagte. Ich aber dachte, die Häuser, die wenige Jahre vor meiner Geburt als Sozialwohnungen entstanden waren, seien alt. So alt, wie meine Großmutter, die als Kind noch die Kämpfe der Roten Ruhrarmee gegen die Freikorps miterlebt hatte, was sie mir aber erst kurz vor ihrem Tod erzählte. So alt wie mein Großvater, der starb, als ich neun war, an einem Tumor, der von Granatsplittern herrührte, die er sich in der Sowjetunion zugezogen hatte, nachdem er irgendwo auf dem Durchmarsch Frauen und Kinder in eine Scheune gesperrt und diese angezündet hatte, was mir aber erst lange nach seinem Tod meine Mutter erzählte.
In der Kafkastraße stand ein dunkelrotes Telefon mit Wählscheibe, das ganz fies klingelte. Von diesem Telefon aus rief meine Mutter ihren Freund an, nachdem ihr Vater gestorben war, und log mir gegenüber, es sei ihre Freundin Renate. Von diesem Telefon aus rief ich als Abiturient Wolfgang Schneider von der konkret-Redaktion an und fragte ihn, wo man in Deutschland Marxismus studieren könne, und log meinem Vater gegenüber, die Empfehlungen Marburg und Bremen hätte mir mein Philosophielehrer gegeben.
In der Kafkastraße hatten wir ein Klingelschild, auf dem stand "Eheleute Reinhold K.", und später "Familie Reinhold K.", was mich auch einbezog. Tiefer als der Klingelton aber ist mir das Umdrehen des Schlüssels in Erinnerung geblieben, wenn mein Vater abends heimkam. Manchmal zucke ich zusammen, wenn abends vom Flur her hörbar ist, wie die Nachbarin ihre Türe aufschließt. Ich selbst habe ein Sicherheitsschloß, das ich immer von innen verriegele.
In der Kafkastraße hatten wir eine Stereoanlage mit Plattenspieler, für den es den Soundtrack von Zorba the Greek gab, zu dem meine Mutter und ich ab und an mit meinem Vater Sirtaki tanzen mußten, oder Skigymnastik zu Aufnahmen von Max Greger machen. Es gab aber auch Schallplatten mit Bluesaufnahmen von Sonny Boy Williamson und Luther Allison, sowie einen Mitschnitt des World Saxophone Quartetts Live in Moers 1977. Den hatte meine Mutter von einem befreundeten Ehepaar, wo er bei Opel arbeitete, zum Geburtstag geschenkt bekommen. Der Fabrikarbeiter war extra in die Stadt zu Life gefahren und hatte dem Fachverkäufer gesagt, die zu Beschenkende wünsche sich so richtig gute Saxophonmusik. Bis heute weiß ich nicht, ob der Fachverkäufer ein begnadeter Situationist war oder einfach in einem der Kataloge, wie sie damals üblich waren, unter "Saxophon" nachgeschlagen hatte. Jedenfalls vergesse ich das betretene Schweigen nach dem Abendessen nicht, als das Geschenk aufgelegt wurde und "The Point of No Return" erklang, eine der unbändigsten Aufnahmen des Quartetts, in der ich erst viele Jahre später Struktur entdeckte. So kam der Freejazz in mein Leben.
Stärker als die Musik blieb mir die Ratlosigkeit der Erwachsenen im Gedächtnis, die sonst so genau wußten, wie sie mithilfe des Schlüsselbundes die Wohnungstüre zu öffnen oder mithilfe der Wählscheibe ein Ortsgespräch einzuleiten hatten. Daß die Ratlosigkeit auch mit dem fehlenden bürgerlichen Habitus der Unterschicht zu tun hatte, verstand ich noch viel später als die berstenden Baritontöne Hamiet Bluietts, das schneidende Alt Oliver Lakes, als die Tatsache, daß da in Moers unweit unseres Wohnortes die genialsten Musiker der Zeit auftraten, in die meine Kindheit fiel.
Sie bliesen aus Boxen, die unterhalb eines dräuenden mahagonifarbenen Omniaregals positioniert waren, in dem sich Bücher über die Roten aus der Feder Klaus Mehnerts befanden, Ratgeber zur antiautoritären Erziehung, die meine Mutter an mir ausprobierte, und einige Bände Kafka aus der Goldmann-Reihe "Das gute Buch für jedermann", von denen meine Mutter mir allerdings sagte, die dürfe ich nie lesen, weil man davon wahnsinnig werde. Erst als ich mein Studium der Philosophie in Bremen auf- und all meine Sachen weggab, um in ein anderes Land zu gehen, wo ich noch Chancen im Kampf für den Sozialismus sah, verlor ich die guten Bücher für jedermann und den Point of No Return, die ich aus dem Omniaregal entwendet hatte, als Reinhold K. weder Familie, noch Eheleute mehr war.

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