18. März 2009

satırın şarkısı, ad Elias Canetti



Allzulange habe ich nur in der Provinz des Menschen gelesen, weil ich sie für eine Aphorismensammlung hielt. Im Gegensatz zu den Aufzeichnungen früherer Jahre, die mir als autobiographische erschienen waren, welche ich infolge einer meiner berüchtigten konservativen Auffassungen erst dann lesen sollte, wenn ich mit dem gesamten eigentlichen Werk des Schriftstellers einigermaßen vertraut war.
Inzwischen habe ich aber selbst das mitreißend bevölkerte Wien der dreißiger Jahre (Das Augenspiel) verlassen und bin zur Geschichte einer Jugend (Die gerettete Zunge) übergegangen.
Diese spricht meine daytime-Interessen viel unmittelbarer an als der theoretische Gehalt von Masse und Macht. Es ist ein postosmanisches Setting, in das der Autor - gleichsam schon schreibend - hineingeboren wird.
"Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt für ein Kind, und wenn ich sage, daß sie in Bulgarien liegt, gebe ich eine unzulängliche Vorstellung von ihr, denn es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Außer den Bulgaren, die oft vom Lande kamen, gab es noch viele Türken, die ein eigenes Viertel bewohnten, und an dieses angrenzend lag das Viertel der Spaniolen, das unsere. Es gab Griechen, Albanesen, Armenier, Zigeuner. Vom gegenüberliegenden Ufer der Donau kamen Rumänen, meine Amme, an die ich mich aber nicht erinnere, war eine Rumänin. Es gab, vereinzelt, auch Russen."

Fred Halliday, leidlich bekannter Nahostexperte aus der alten New Left, erzählte unlängst im Rahmen eines Vortrages über Cosmopolitanism, Ethnicity and Nationality, wie er in Barcelona saß, ein Bier trank und sich des kosmopolitischen Charakters der Stadt erfreute. Beim zweiten Bier kam ihm der Gedanke daran, daß sämtliche ähnlich kosmopolitischen Städte des 19. Jahrhunderts im Laufe des 20. in ihrem Wesen zerstört wurden. Er muß noch viel getrunken haben, aber der Gedanke läßt sich nicht mehr zurückdrängen, daß im langen 19. Jahrhundert, ganz im Gegensatz zum Leben in seiner vielanalysierten Hauptstadt Paris, in der osmanischen Peripherie des Weltsystems ungeachtet der politischen Despotie und militärischen Willkür eine ganze Reihe von Hafenstädten bestand, in denen das Leben so kosmopolitisch sich zutrug, wie man es sich für das 21. Jahrhundert wünschen würde, und es sich in New York als Utopie verkörpern mag. Sie alle sind nicht mehr.


Völkermorde, Umsiedlungen ("Bevölkerungsaustausch") und nationale Homogenisierungsprozesse haben die Welt zu einer konfliktreicheren und menschlich ärmeren gemacht. Nur wenigenorts wird dies so deutlich sichtbar wie in den ehemaligen Gebieten des osmanischen Reiches. Aus seinem Zerfallsprozeß entstand die jungtürkische und kemalistische Bewegung, die einen Hitler historisch zu begeistern wußte (habe die Zitate gerade nicht parat).
Canetti war nicht nur Zeitzeuge des Holocaust, sondern auch jener melancholischen Dystopie, die in diesem Zerfallsprozeß mitschwang. Sie war seine Kindheit.
"'Edirne' - so hieß Adrianopel auf türkisch - die Stadt, von der beide Großeltern Canetti stammten, wurde oft genannt. Der Großvater sang nie endende türkische Lieder, wobei es darauf ankam, daß er manche hohe Töne besonders lange aushielt; ich hatte die heftigen und rascheren spanischen Lieder viel lieber."

Hierzu wäre musikhistorisch anzumerken, daß das Kind Elias vermutlich eher zwischen U- und E-Musik unterschieden haben wird. Die Ladino-Lieder jener Zeit waren größtenteils Beispiele populärer urbaner Musik, über welche die israelische Musikethnologin Hadass Pal-Yarden im Beiheft ihrer eigenen Einspielung schreibt, sie existierten häufig auch in griechischer, armenischer, türkischer oder gar kurdischer Version, und es sei oft müßig, einen "Ursprung" des Liedgutes zu ermitteln. Bei den nie endenden Liedern hingegen wird es sich um osmanische Kunstmusik gehandelt haben, die nicht nur damals für Kinder vis-a-vis der Großeltern eine Herausforderung darstellte.

Der mittels Musik erzählbar gemachte, welthistorische Kontext der Kindheit eignet sich beileibe nicht zur romantischen Verklärung.
"der, an den ich mich am besten erinnere, war mein Freund, der traurige Armenier. Er sang beim Holzhacken Lieder, die ich zwar nicht verstand, die mir aber das Herz zerrissen. Als ich die Mutter fragte, warum er so traurig sei, sagte sie, schlechte Leute hätten die Armenier in Stambol alle umbringen wollen, er habe seine ganze Familie dort verloren. Von einem Versteck aus habe er mitangesehen, wie seine Schwester umgebracht worden sei. Er sei dann nach Bulgarien geflohen und mein Vater habe ihn aus Mitleid ins Haus genommen. Wenn er jetzt Holz hacke, müsse er immer an seine kleine Schwester denken, und darum singe er diese traurigen Lieder.
Ich faßte eine tiefe Liebe zu ihm. Wenn er Holz hackte, stellte ich mich auf das Sofa am Ende des langen Wohnzimmers, dessen Fenster hier auf den Küchenhof ging. Da bückte ich mich zum Fenster hinaus und sah ihm zu, und wenn er sang, dachte ich an seine Schwester - ich wünschte mir dann immer eine kleine Schwester. [...] Wir sprachen einige Worte zueinander, aber nur wenige, und ich weiß nicht, in welcher Sprache. Aber er wartete auf mich, bevor er mit dem Holzhacken begann. Sobald er mich sah, lächelte er ein wenig und hob die Axt, und es war schrecklich, mit welchem Zorn er auf das Holz losschlug."

Die Mutter, eine Sephardin "de buena famiglia" der Arditti, bezog sich auf die von Abdülhamid instigierten Pogrome von 1896.
Als die Cousine Laurica das Lesen und Schreiben erlernt, verfolgt Elias sie mit allen Mitteln, um der begehrten Schrift habhaft zu werden. Letzten Endes beschließt er, sie mit dem Beil umzubringen, um in den Besitz des vorenthaltenen Wissens zu gelangen. Der Großvater hält ihn auf.
"daß ich mit fünf Jahren zur Axt gegriffen hatte, um sie zu töten, war für alle unfaßbar, ja daß ich auch nur imstande gewesen war, die schwere Axt so vor mir herzutragen. Ich glaube, man begriff, daß es mir so sehr um die Schrift zu tun war, es waren Juden, und die 'Schrift' bedeutete ihnen allen viel, aber es mußte etwas sehr Schlechtes und Gefährliches in mir sein"

Etwas Schlechtes und Gefährliches, das sich über die Musik, die Fluchtschicksale und die dräuende Konstituiertheit der Welt seinen Weg ins Verhalten des Vorschulkindes gebahnt hatte.
"Den Zusammenhang meiner Mordabsicht mit dem Schicksal des Armeniers erkannte niemand. Ich liebte ihn, seine traurigen Lieder und Worte. Ich liebte das Beil, mit dem er Holz hackte."


(Alle Zitate aus Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Zitiert nach der Ausgabe Verlag Volk und Welt (DDR), S. 10, 13, 23-24, 33, 54, 55.)

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