19. Mai 2009

statt rundheraus ihre Zukunftspläne zu berichten, holte M. ihr Handy hervor, so ein ganz normales, und zeigte mir eine Applikation, die ihr Cousin ihr aufgespielt hatte, eine komplette E-Book-Datei von Hafez' Divan. Die fragilen persischen Zeichen waren auf dem unscheinbaren Bildschirm überraschend gut zu lesen. Behende scrollte sie zum Schlußhemistich der Ghasele Nummer 385, deren Kernaussage wiedergab, was sie über die mittelfristig vor ihr liegenden Optionen dachte. Nur: das Wort Princeton kam nicht darin vor.

Überhaupt, die Sache mit dem Aberglauben. Auf meiner Facebookseite, die ich kaum mehr nutze, habe ich vorgestern sowohl das chinesische, als auch das europäische Horoskop installiert, seither aber nicht mehr reingeschaut. Letztens fiel mir auf, daß eine schambedeckte Studentin [Schambedeckung: dies wäre wohl die wörtlich korrekteste Übersetzung dessen, womit man das Haupthaar verbergen soll] zwar immer einschränkend "insh´allah" (so Gott will) sagt, wenn jemand Aussagen über die Zukunft trifft, aber recht unreflektiert berichtete, daß "laut Internet" das Wetter bis zum Ende des Monats nicht mehr so richtig gut werden soll. Früher mochte ich dies "insh´allah", weil es mich auf eine absurde Weise an die Sache mit dem Quantensprung gemahnte. Da war dieser britische Mathematikprofessor in meinem Arabischkurs, der auf dem Nachhauseweg erzählte, er selbst stehe ja immer um sechs Uhr auf und schaue sich einige physikalische Formeln an. Die Klarheit der Formulierung abstrakter Sachverhalte treibe ihm häufig Tränen in die Augen und vermittele ihm das Gefühl, es lohne sich, aufzuwachen und den Tag zu beginnen. Aus dieser Erfahrung heraus könne er es durchaus nachvollziehen, wenn unser Dozent lauthals seinem Gott für die Schönheit der arabischen Grammatik danke. Die Genitivkonstruktion mochte er übrigens ganz besonders.

Beim Verspeisen eines Kaiserschmarrns mit Vanillesauce von einem älteren Herren freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht worden, daß natürliches Vanillearoma aus warmgepreßtem Kiefernholz gewonnen wird. Danach schmeckte es mir gleich doppelt so gut, ich hatte weit Gesundheitsschädigenderes dahinter vermutet.

Mein Bambustee riecht leicht nach kaltgepreßtem Knoblauch.

Der nämliche Herr erwies sich als ein Altlinker, der kurz vor der kritischen Spaltung seiner Organisation in einem ihrer Führungsgremien eine zweiundsiebzigstündige Diskussion über die einzuschlagende Richtung mit nur wenigen Schlafpausen absolviert hatte. Jetzt sitzt er im Exil, weiß vieles über Biochemie, z.B. auch den Zusammenhang zwischen Haarausfall und Testosteronproduktion, und taxiert mit Abscheu die fröhlichen jungen Studenten, die als Stipendiaten des verhaßten Regimes hierher gesandt werden.

N. und ich hatten die ganze Zeit über ein wenig Angst, daß er auch mit uns zweiundsiebzig Stunden lang diskutieren wollen würde, und vermieden kontroverse Themen.

Kleines Kriminalhörspiel: [Eine Hammondorgel setzt ein] "The case of the Mystery Black Notes that have been stolen and camouflaged for years and years" [Jemand schreit, Glas zerspringt. Oboen.] (Rahsaan Roland Kirk: Left & Right)

Auf der Hasenheide bauten Brasilianer winzige Fußballtore auf, die kaum mehr als fünf Meter auseinanderstanden. In der Ferne zerbissen sich Hunde.

Beim Abendessen auswärts einem recht jungen Linken begegnet, der ebenfalls zweiundsiebzig Stunden auf mich einzureden drohte; es handelte sich um jemanden, der sein Geld mit dem Verkauf von türkischsprachigen Büchern verdient, darunter durchaus auch solche, die classless Kulla sicher fotografieren würde, wenn er sie zu Gesicht bekäme. Im Namen der werktätigen Bevölkerung sprechend bemängelte er, daß Orhan Pamuk nach seinen Äußerungen zur, ähemm, "armenischen Thematik" in die USA geflohen sei, denn das kämpfende Volk verfüge nicht über vergleichbare Rückzugsmöglichkeiten wie der privilegierte, kosmopolitische Liberale: "Wenn ich sowas sage, komme ich ins Gefängnis, und ich habe nicht die Chance, einfach so nach New York zu gehen". Ich rief ihm nicht in Erinnerung, daß wir in einem Lokal an der Flughafenstraße saßen.

Seit Stunden einen bitteren Geschmack am Gaumen wegen so'm Nasenspray.

Allzuoft werden bei der Interpretation vormoderner, außereuropäischer Gegenstände eben jene Annahmen wieder eingeführt, die eigentlich von der klassischen Moderne außer Kraft gesetzt wurden.

Lobet und preiset die Götterscharen für den aspirierten, stimmhaften retroflexen Flap.*


*Glauben Sie der Wikipedia kein Wort. Nicht ländliche Hindisprecher, sondern die Autoren des Artikels verwechseln diesen aus dem Sanskrit stammenden Konsonanten mit denen für perso-arabische Lehnworte.

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