10. September 2009

als ich 20 war und Marxist sein wollte, konnte ich nie verstehen, welchen geschichtsphilosophischen Gehalt genau man aus Walter Benjamins Verweis darauf, daß jede Sekunde die kleine Pforte sei, durch die der Messias eintreten könne, zu extrahieren habe (Begriff d. Gesch., Anhang B).

Heute mein Fahrrad warten lassen. Es trat eine Dame auf den Hinterhof, die blond und von gesunder Statur war. Sie hielt zwei Stofftaschen in den Händen. Auf der einen stand ein Link zu einer der Internetpräsenzen der LandFrauen sowie ein gesunder Claim. Sie war sehr darauf bedacht, möglichst schnell die Aufmerksamkeit eines der Fahrradmechaniker auf sich zu ziehen und musterte die wartenden Kunden offensichtlich in Hinblick darauf, bei wem sie sich dazwischendrängeln könne. Endlich tat sie den entscheidenden Sprung, als mir gerade jemand die Gangschaltung nachziehen wollte. Sie wollte nur ihr repariertes Rad abholen. Gut, zu solch einem Behufe sich dazwischenzuschieben hat nichts Verächtliches. Entsprechend knapp bedeutete der Mechaniker ihr, sie möge ihren Reparaturschein vorzeigen. Da erst wurde sie gewahr, daß sie für den Vorgang einen solchen Zettel brauchen würde, sie lächelte nd ging ein paar Meter fort, setzte sich auf eine hölzerne Bank und räumte den Inhalt ihrer Stofftaschen aus. Eine Klarsichthülle enthielt Papierabzüge von Schwarzweißfotos, die sie hervornahm und einzeln betrachtete, bevor sie sie wieder zurücklegte. Auch andere Dokumente durchforstete sie.

Ich mag Menschen, die beim Aufräumen in die Gewohnheit verfallen, monatelang ignorierte Schriftstücke auf ihren Inhalt zu prüfen oder in nie gelesene Bücher reinzuschauen, aus der Ratio heraus, daß doch die gewonnene Information für den Arbeitsprozeß des Aufräumens relevant sein müsse, da sie zum Klassifizieren des aufzuräumenden Gegenstands und zur Strukturierung der bewohnten Räume diene, sich dann aber verlieren, verlieren in die verschwenderische Hingabe an einen Text, den sie in ihrer designierten Freizeit nie lesen oder ihrer eigentlichen Arbeitszeit nie bearbeiten würden. Eine Rezeptionsgeschichte allein solcherart gelesener Texte dürfte, einmal verfaßt, digital niemals zugänglich gemacht werden, damit niemand in ihr läse, um sich am Bildschirm von dringenderen Aufgaben abzulenken. Allein in Präsenzbibliotheken dürfte sie erhältlich sein, so daß man einen Fahrweg auf sich nehmen müßte, um dem Werk zu begegnen.

Als mein Fahrrad vom Bock abgespannt wurde, war die Dame wieder in die Nähe der Mechaniker getreten und durchforstete ihre gewaltige Börse nach dem Zettel.

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