7. Oktober 2009

offene Türe des China-Imbiss, vor der rechts und links je eine Holzbank steht. Es läuft ein Fernseher mit Sportberichten. Der Mann beobachtet mich, wie ich den Bildschirm beobachte. Lustlos beide. Es gibt halt nichts anderes zu sehen. Was der Mann wohl denkt.

Schon wieder Schweinsteiger.

Gefahr wie Triumph werden vom ewiggleichen Grundrhythmus getragen, den die Fußballbegeisterten unter uns schon in der siebten Klasse zu imitieren wußten. Es erfolgt eine Betonung auf Silben, die herkömmlicher Metrik zufolge unbetont wären: óf-fensiv / so-fór-tiger Rückzug / gár nicht etc. Bei ausnahmslos jeder dieser Synkopen mengt der Sportreporter seiner Stimme so etwas wie ein Krächzen bei, das wohl eine Reminiszenz an geschriene Worte darstellen soll.

Es ist dies Krächzen, das meiner Mutter eine Gänsehaut verlieh, wenn sie Joe Cocker anhörte. Sie bezeichnete es als bluesig. In der Fachpresse war von Reibeisenstimme oder Röhre die Rede.

Mir ruft es, vermittelt durch die reelle Kühle des China-Imbiss mit offenstehender Türe, die kalte Wohnung in Erinnerung. Es sei, so wurde es mir vermittelt, in der Röhrenstimme etwas Dreckiges zu finden, das auf eine besondere Intensität von Gefühlen verweise. Zweifelsohne war es für meine Mutter und einen Gutteil der in Scheidungsprozessen befindlichen, deutschsprachigen Joe-Cocker-Rezeption zutreffend. Nur ist dies Dreckige nicht ein Stilmittel des Bluesgesanges, sondern der Sportpalastreden. Dosiertes, einstudiertes Geschrei, Gestampfe auf Silben, die es am Wenigsten ertragen, Dramatik und Martialisches. Solcherlei Stimmen sprachen in der Welt, in der ich aufwuchs, Gefühle an.

Wenn Emotionen angelernt und nicht naturgegeben sind, wenn sie sich durch Sprache nicht bloß im semantischen, sondern im breiteren semiologischen Sinne konstituieren, so gehören ebenso wie die Worte der Mutter die Gesten, die Musik, die Tonträger selbst, ihr Coverdesign zu den Medien, vermittels derer sie über Emotionen zu mir sprach.

Schon wieder Schw-éin-steiger.

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