12. Mai 2009

said no, no, no (2)

Lange nicht mehr solch eine erschütternde Einsamkeit verspürt wie heute, da ich auf Besuch warte. Gestern war M. da. Überraschend, denn sie hatte sich zwar angekündigt, doch ich hätte sie nicht erwartet, es ihr gewiß nicht übelgenommen. Doch sie kam, und das pünktlich, und hatte ihr Haar glatt über der Stirne befestigt, war wieder einmal ganz in schwarz gekleidet und hielt eine dunkelrote Rose mit dem Haupt nach unten. Erst nachdem sie von dieser sprach, konnte ich meine Augen von ihren lösen und auf die Rose richten, die sie jetzt umdrehte und mir reichte. Das letzte Mal gesehen hatten wir uns im vorigen Juli auf der Hasenheide. M. war damals mit einem Hund gekommen. Ich habe ihn als schwarz in Erinnerung. Zu jener Zeit war ich in A. verliebt und erzählte es. Sie freute sich und nahm mich fest in den Arm, mit dieser überbordenden Erotik, die ihr eigen ist, und die sie sicher nur den Männern gegenüber zeigt, mit denen sie nicht ins Bett geht.

Eine junge, lang noch nicht erwachsene Frau mit weißem, vielleicht auch zartrosafarbenem Kopftuch füttert ihren höchstens vierzigjährigen, vielleicht auch erheblich älteren Vater, der im Rollstuhl sitzt, mit Torte und führt ihm ab und an den Tee an den Mund. Er quittiert jede dieser Handlungen mit einem Nicken. Es ist kein Abnicken mehr, sondern eine müde Anerkennung dessen, daß er ihr ausgeliefert ist und sie ihn gut behandelt.
Dabei waren ihre Bewegungen viel zu schnell; wie die raschen, nachlässigen Fütterbewegungen erfahrener Hausfrauen, die nebenbei schnell noch einen greisen Pflegefall versorgen, während sie an dem am Boden ausgebreiteten Tuch etwas abzubekommen versuchen, dessen Speisen sie allein zubereitet haben und dessen Geschirr sie allein werden abräumen und spülen müssen.

Daneben drei Damen und ein Herr, alternde Arbeiterklasse, die ein jeder Teller vollgehäuft mit Bockwürsten serviert bekommen haben, riesige Portionen, es gehen größere Scheine über den Tisch, als die Kellnerin sie bringt, obwohl hier doch eigentlich Selbstbedienung herrscht, sie scheinen einen Geburtstag zu begehen zu haben.

Seit jenem Tag hatte ich M. nicht mehr gesehen. Die Umarmung jetzt war die gleiche. Ich spöttelte über die Klinik, sie erzählte von sich und der Heimatstadt ihrer Eltern, wo sie im Namen einer deutschen Institution an einem Projekt für zeitgenössische Kunst mitgearbeitet habe. Verspannt saß ich neben ihr, zum Abschied zeigte ich ihr die Station und den Mitpatienten meinen Besuch.
Was ich seither erlebt hatte, erzählte ich kurz, und tatsächlich schien es mir so, als seien die Monate seither von einem alkoholbedingten, langwierigen Absturz geprägt, der auch das durchkreuzt hat, was sie von mir erwartet bzw. mir zugetraut hatte. Sie freut sich, daß ich jetzt schreibe. Hoffentlich liest sie dies hier nicht. Unter ihren Augen weiterhin die Ringe der eigenen Selbstzerstörung, die so gut zu ihrem Schwarz passen. Sie geht jetzt Joggen.

Joggengehen, einer der schönsten Ausdrücke meines Vaters, er fuhr eine lange Autostrecke zum Wald nah einer benachbarten Kleinstadt, jeden Sonntag, und betrank sich nach Absolvieren des Parcours. Zwanzig Kilometer wird er wohl gelaufen sein, ich mußte manchmal mit und wartete dann an einer Stelle im Wald, bis er wieder vorbeikam. Er wird im Dezember siebzig.

Einen angekündigten Besuch einer verläßlichen Person zu erwarten ist anstrengender als der unverhoffte einer unzuverlässigen, die auch noch pünktlich zum Beginn der Besuchszeit im Hof erscheint.

"Wenn ich einfach nur funktionieren kann, dann bin ich schon glücklich" (Teilnehmerin einer psychoedukativen Gruppe)

P. - ein zarter, hyperaktiver Dealer und Polytoxikomane - erzählt, daß er nervös wird und sich beobachtet fühlt, sobald eine der jüngeren Psychotherapeutinnen ihn anschaut und etwas zu schreiben beginnt. Es ist der musternde Blick der Macht, der inquisitorische Blick, gegen den er sich sträubt. Zurecht. Er ist einer der wenigen hier, die sich gegen institutionelle Zwänge bewußt und lustvoll zur Wehr setzen und gleichzeitig das Ziel, drogenfrei zu leben, ernst nehmen - auch wenn die meisten Schwestern ihm das irgendwie nicht glauben wollen.

Am Morgen stelle ich die Rose ins Sonnenlicht auf das ausklappbare Nachttischbrett, das ich schräg über mein am Kopfende hochgefahrenes Bett ziehe, links ein Becher kalten Wassers, rechts ein Pott dünnen, koffeinfreien Kaffees, die Rose wackelt, wenn ich schreibe, ihre Blätter zittern und ihr Haupt neigt sich rasch über mein Heft. Schatten wirft nur die Stiftspitze.

Die ganze Nacht über war D. auf. Ich konnte selbst schlecht schlafen, und sah ihn entweder in der Finsternis mit sanft kreisenden Bewegungen den Spiegel putzen, scheinbar an seinem Bildnis vorbeistarrend, oder am Fenster stehend auf den schwarzen Hof schauen. Oft war er auch gar nicht im Zimmer, dann fehlten auch meine Hausschuhe neben meinem Bett. Die ganze Nacht über war D. still mit sich allein. Sobald er sah, wie ich mein "tolles Buch" öffnete (so nannte er mißtrauisch mein Notizheft), fing er wieder an, zu rumoren und eine lange Folge von mehr als halblauten Sätzen auszustoßen, die eigentlich je einen Blick, eine Antwort oder Nachfrage erforderten.
Ich spürte, wie er mich musterte, und starrte aufs Papier, schreiben konnte ich ohnehin nicht bei dem Lärm; hielt das für pädagogisch notwendig, wollte ihn durch Schweigen davon abbringen, bei Bedarf einseitig Aufmerksamkeit einzufordern, war genervt und abgelenkt, und tat dennoch genau das, was das zweite Kind im stade du miroir tut: Alle Aufmerksamkeit des Anderen auf mich ziehen, mit ihm spielen, ihn manipulieren. Tatsächlich kümmerte ich mich unter der Maske des ernst Schreibenden nur um seine Reaktionen auf mein ihn Ignorieren, registrierte jede feine Veränderung seiner Stimme, seiner Bewegungen, analysierte seine Verrichtungen danach, ob sie notwendig und legitim seien oder darauf angelegt, mich zu stören. Dabei hatte ich doch nur in Ruhe schreiben wollen. Ich bin schon glücklich, wenn ich einfach nur funktionieren kann.

Das Normale an D. verachte ich. Sobald er spricht wie jemand in seinem Alter und von seiner Herkunft (Mitte zwanzig, Spreewald) pathologisiere ich ihn. Ich bekomme dann auch fast Angst, mein schwer kranker Zimmergenosse wächst vor meinen Augen zu einem halben Nazi, dessen Dummheit jeden Augenblick in Intellektuellenhaß umschlagen könnte. Während ich dies schrieb, stand er vor mir ans Fensterbrett gelehnt und starrte auf mein Heft, vielleicht wollte auch er nur das sanfte Wippen der Rose betrachten, die er so gerne besäße (mehrmals schon hat er sie entwendet und ist damit über die Stationsflure spaziert), oder das zackige Rennen der Stiftspitze.
Vielleicht aber war es ihm ohnehin offenbar, daß ich gerade über ihn schrieb, weil er klar verstanden hat, wie ich ticke. Weil es ihm klar ist, daß sich alles Schreiben nur auf ihn richten kann - wie es P. von der Therapeutin vermutet. Weil er weiß, daß Menschen, die sich geistig überlegen fühlen (dies Teil meines Krankheitsbildes unter ICD 10 F 60.8) und genervt tun, in Wirklichkeit Sklaven einer Faszination für das Objekt sind - wie es P. von einer der jungen Schwestern vermutet, die sich immer als extrem genervt von ihm geriert; nun gut, ein wenig habe ich ihm diesen Gedanken gestern nacht in den Mund gelegt.

P. wacht auf, lächelt mich an und sagt: "Na, schreibste wieder über mich?"

Ist es schlimmer, schriftlich fixiert zu werden, als in bösen Gedanken oder Lästereien anderer aufzutauchen (wovor ich Angst habe)? Ja, denn Schrift ist immer schon ein Gestus der Macht, sie ist es seit ihrer Erfindung vor 5000 Jahren, und Schreiben vor anderen - egal, was - eine Inszenierung von Macht. Von der Universität mußte ich hierher kommen, um das zu verstehen.
Sonst hätte ich nicht darüber schreiben können, wie es ist, vor anderen zu schreiben, daß ich jetzt gerade darüber reflektiere, wie es ist, unter ihren Blicken über sie zu schreiben. Voreinander zu schreiben ist das Normalste der Welt in meiner peergroup. Dort ist es das Sprechen, das einem geneidet wird, ein kluger Wortbeitrag mehr als eine ganze, hervorragende Arbeit, hier hingegen scheint niemand ein Gefühl der Mißgunst zu hegen, egal was ich sage.


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