9. Mai 2009

tried to make me go to rehab (1)

Übrigens gibt es Krankheitszustände, die uns behagen, die uns lieb sind, was Worte sind, die sich vielleicht zur Einschüchterung von Gesundheitsfanatikern eignen. Das wahre Gesundsein gipfelt in einem Sichwillkommenheißen. Robert Walser

"Es wurde ja jeden Tag getrunken" (aus den mündlichen Aussagen der Mitpatientin M. über sich selbst)

Es sind die Nominalisierungen in den uns vorgelegten therapeutischen Texten, auf die zwei Frauen reagieren, indem sie von sich selbst als "man" sprechen.

Der Hochschulabschluß aus der DDR wurde für die Rente nicht anerkannt.

Es ist so viel Selbstdenunziatorisches in der Gruppentherapie; gut, daß ich das als Marxist gewohnt bin.

"Vielen Dank für Ihre Hilfe", schließt eine weitere Mitpatientin den Vortrag ihres Aufsatzes über ihre Suchtgeschichte.

Therapie heißt viel rauchen und wenig denken.

"Ich bin doch schon tot, oder?" (A., m, 18, zu W. Er brach einige Tage darauf eines der verriegelten Stationsfenster auf und kam erst nach über einer Woche zurück, im Rollstuhl und kaum noch bereit, Blickkontakt aufzunehmen)

In der Ergotherapie wurde deutlicher als bei allen anderen Aktivitäten, wie sich spontaner Widerstand gegen die institutionalisierte Behandlung von Menschen formen kann. P. machte Witze über seinen Pipi und hernach einer jüngeren Therapeutin ein Kompliment. Sie antwortete tatsächlich: "Das ist hier nicht angebracht."
Eine andere Therapeutin, die sich später brüsten sollte, ein wenig Hebräisch zu beherrschen, machte überzogene Anstände, W.s slavischen Nachnamen nicht aussprechen zu können. Dann fragte sie ihn, wie lange er "schon in Deutschland" sei. Als er sie stutzig anstarrte, kam sofort der Nachsatz, laut, deutlich und langsam: "Kön-nen Sie mich ver-ste-hen?"
Ich war mit Seidenmalerei beschäftigt. Sofort trafen sich unsere Blicke, wir lachten, sie wurde nervös. Bei allem, was wir taten, achteten sie nur auf das Vorhandensein grundlegender Handfertigkeiten und das Befolgen von Anweisungen. Im Umgang mit Suchtpatienten tritt die Gestaltungsaufgabe stärker noch in Form eines institutionell regulierten Zwangsmittels auf, als die Medikamente dies tun, die für die meisten unter uns mit Lustgewinn oder doch Leidensminderung verbunden sind.

Wird man ein wenig aufmüpfig im Verhalten, lacht oder witzelt man gegen die Schwere der Stimmung an, die eben beileibe nicht nur mitgebracht, sondern teils wie verordnet erscheint, so bekommt man es von Schwesternseite leicht mit Schikanen zu tun, die denen auf jeder berliner Behörde gleichen.

Reue gehört zum Behandlungskonzept. Sie soll das Gefühl der Scham ersetzen, das viele Suchtpatienten befallen hat. Reue geht nämlich hier wie in traditionellen Justizdiskursen mit dem Vorsatz einher, die Tat nie wieder zu begehen, under the pain of erneuter Einweisung. Für die reelle Gefahr hinter dieser Drohung bürgen diejenigen Patientenschicksale, die zum wiederholten Male "hier sind" oder woanders waren, oder doch in den Erzählungen der Therapeuten weiterleben. Sie sind die öffentlich gepfählten, entleibten Köpfe der modernen klinischen Therapie, und entleibt sind sie oft wirklich, auch und gerade, wenn sie physisch zugegen sind.

Scham hingegen koinzidiert mit der des Gewohnheitstäters. Lange bevor dieser Begriff in der Rechtssprache sich bildete, lebten Ganoven in Grenzsektoren der Gesellschaft: Die Spelunke ist fester Bestandteil jedes Fantasy- und Historienschinkens, und keine linguistische Überblicksdarstellung kommt ohne einen Verweis auf das Rotwelsche als Soziolekt aus. Das als gefährlich und lustvoll vorgestellte Leben dieser liminalen Figuren wird, sobald es um die Gegenwart geht, vom Diskurs des Wiederholungszwanges überdeckt. Ein Täter, der nicht reuig ist, wird immer und immer wieder seine Taten begehen, er wird an ihnen innerlich ebenso zugrunde gehen, wie es seinen Opfern im schlimmsten Falle geschieht, er wird zum Dorian-Gray-Protrait der sündigen Gesellschaft, und weil er nicht anders kann, als er tut, soll und wird er Scham empfinden, die ihn zusätzlich zernagen und entweder in die Reue oder ins Verderben führen soll.

Ob dem so ist, bleibt seit Baudelaire, Bataille und Genet in Zweifel zu ziehen. Sie sind Dichter nicht nur der Delinquenz, sondern auch des Deliriums.

An einem Rausch ist das schönste der Augenblick, in dem er anfängt, und die Erinnerung an ihn. Kurt Tucholsky

[...] Der Rausch nämlich spricht als anthropologische Konstante die Sehnsucht nach dem Vergehen an - und ein Vergehen im ontologischen Sinne ist immer auch eines im gesetzlichen.

"Mit diesem Satz hat Bernstein schon die SPD verraten", rief ein langhaariger Suchtpatient während der Vorstellung eines Abstinenzverbandes und verließ den Raum.

Die Substanz nivelliert den Rausch selbst.

[Den werten Leser/innen erspare ich hier langwierige Ausführungen über einige Stellen bei Hafez zu Rausch und Abhängigkeit, obschon mir der wiederholte Gebrauch des Wortes Semiotik darin in meinem Krankenhausbett besonderen Halt verlieh, und besagte Stellen mir nach wie vor ganz hübsch vorkommen]

Eine Dame, er Alkoholiker, sie Alkoholikerin, Verwaltungsangestellte, betont bei jeder Gelegenheit, daß sie gern Qualitätsprodukte kauft. Sie spricht nicht von Kuchen, sondern von schönem Kuchen, nich so'n abjepacktes Zeuch; erst recht nicht von Fisch, sondern von dem frischen Fisch, den es bei uns in Wilmersdorf auf dem Markt gibt, nich sowas aus der Tiefkühltruhe; und sie betont, daß sie im Haushalt fast immer Zartbitterschokolade und Tschibokaffee habe, sie betont dies während einer Gruppensitzung mit dem Thema "Sich an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen können", und es ist wohlgemerkt die Dame, die vorgestern sagte, ihr Mann und sie hätten kein gemeinsames Leben mehr außer der Pflege des Hauses und des Hundes.

Auffällig viele suchtkranke Männer, also bisher sind es zwei von den fünfen, mit denen ich mir das Zimmer teilen muß, sind süchtig nach dem Verursachen von Geräuschen. Insbesondere, wenn man liest oder schreibt, schnaufen und rascheln sie, rumoren, rufen "Ja, so ist das", oder "Ne, ne, ne", grunzen oder seufzen, sie brauchen Aufmerksamkeit. Unterhalten kann man sich genau mit diesen beiden Männern nicht.

Ein Wesen, das vierundzwanzig Stunden Geräusche von sich gibt.

Junge Mediziner wirken fast immer arrogant und hohl. Man meint, es seien diejenigen, über die Studenten sämtlicher anderer Fachrichtungen unorigineller Weise immer herziehen. Dann will man sich fast mit ihnen solidarisieren, doch man sollte vorsichtig sein; sie verstehen wirklich nicht, was man ihnen zu erklären versucht.

Ältere Schwestern kämpfen gegen "neue" Ärztinnen derart, wie zähe Verwaltungskader so gegen politische Neuerer kämpfen. Die Ambulanzsekretärin kokettiert damit, daß der Oberarzt vor ihr Angst hat.

Dennoch ist Folgsamkeit gleich Gesundung, alles andere Querulanz, ein Symptom, das sie zwar nicht nach ICD 10 einzuordnen wüßten, das aber offenbar darauf schließen läßt, daß dem Patienten noch nicht zuzutrauen sei, ohne Bevormundung zu leben. Sobald man Ausgang hat, sind sie für Bestechungen in Form von Süßigkeiten durchaus offen.

Komponieren Sie sich Ihre eigene Salatsinfonie selbst, heißt es in der Caféteria, die einem erst zugänglich wird, wenn man das komplette Eingeschlossensein ("Stationsgebot") per Genesungsleistung überwunden hat.

Im Hof, bei meinem ersten Ausgang an die Aprilsonne, treffe ich auf eine Frau mit gelöstem Kopftuch und knallrosafarbenem Krankendress. Sie ist keine Psychiatriepatientin. Sie ruft ihren Mann an. Sie fragt ihn, was er macht. Er sei also im Café, vermutlich spiele er wieder Karten. Er solle es gut machen. Sie legt auf. Sie geht wieder ins Gebäude.

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