2. September 2009

all the night through, through the noise and to do

einige wache Zeit noch verfolgte mich das Bild einer Frau, die über eine Stunde hinweg vor zwei Lokalen an der Körtestraße gestanden und Gäste angeschrien und bedroht hatte. Es war sehr schwer zu extrapolieren, worum es ihr ging: Immer wieder tauchten Bruchstücke auf wie Kinderwagen oder Schüler, die um acht Uhr morgens über die Straße gingen, und die angeschrienen Männer waren entweder Täter eines konkret von ihr erinnerten Ereignisses oder selbstgefällige Gaffer. Ebenso schwer war es, sich ihrer Faszination zu entziehen. Sie beherrschte schnell das Gespräch zumindest an unserem Tisch. Ein Mann mit weißem Haar stand tief getroffen auf und versuchte mit fassungsloser Redlichkeit zu verstehen, um welchen Kinderwagen es sich denn handele, da sei doch gar keiner. Ein anderer grummelte wiederholt, sie möge jetzt gehen und es sei ihm scheißegal, was sie zu sagen hatte. Einmal baute sie sich vor diesem auf und sagte, mehr zu sich selbst, selbstgefällig und kalt wie ein gelungener Absatz bei Lautréamont: Oh nein, das glaub ich nicht, daß dir das scheißegal ist. Du machst dir doch vor Angst in die Hosen.
Ihre Rachephantasien beinhalteten nicht nur das persönliche Auflauern und Ermorden der von ihr als Täter markierten Gäste. Vielmehr wünschte sie sich auch eine Bewegung herbei, gegen die die NPD nichts sei, um sie alle an den nächsten Laternenpfählen aufzuknüpfen. Manchmal blieb sie auch nur im Halbdunkel stehen und fixierte jemanden, den Rücken bei aller Körperspannung leicht zum Hohlkreuz gedehnt, von schlankem, aber muskulösem Bau, und dem - wie ich meine, obligatorisch - nach vorn gestrecktem Kinn, zwischen welchem und den Schultermuskeln der Hals einen Fünfundvierziggradwinkel bildete.

Erst heute ergibt sich mir eine nicht zwangsläufige Assoziation zu einem Theaterstück, in dem wir der einzigen Protagonistin folgen, wie sie grausam Rache an den ebenfalls noch jugendlichen Mördern ihres Sohnes nimmt, es schwingt ein wenig Haneke mit, und wir sind häufig ganz bei ihr und ihrer Nemesis. Bis sich herausstellt, daß nicht nur die Rachemorde an den Tätern von ihr herbeiphantasiert sind. Sondern auch der Mord an ihrem Sohn. Und die Existenz eines solchen Sohnes selbst. So wünscht man sich, daß die Frau von der Körtestraße bloß nicht wirklich eine Mutter ist, die nichts mehr zu verlieren hat - mit diesen Worten charakterisierte sie sich mehrfach selbst - und nicht nur der Opferstatus des Sohnes herbeiphantasiert war, sondern auch die Existenz eines solchen.

Denn es gibt unter Bloggern solche (Krawatte-zurechtrück), die erfahren mußten, daß aggressive Vergewaltigungsphantasien seitens der Mutter, die noch dazu Gewaltanwendung gegen die imaginierten Schänder des hilflosen Sohnes beinhalten, als Projektion zur Umdefinition der Tatsache dienen können, daß man dem eigenen Wunsch nach sexueller Betätigung am Sohne durchaus auch mal stattgegeben hat. Dem entspricht am anderen Ende der kulturphänomenologischen Skala innerfamiliärer Gewalt das Verhalten eines Onkels, der nach einem gescheiterten Vergewaltigungsversuch an seiner erwachsenen Nichte der gesamten Großfamilie wiederholt erzählt, das Mädchen sei auf der schiefen Bahn, und ihr unehelicher Partner stelle eine Gefahr dar, vor der das Mädchen unbedingt gerettet werden müsse, um nicht vollends abzurutschen. Der zweite Fall ereignete sich in einer jener parallelgesellschaftlichen, muslimischen Familien, über die sämtliche Deutschen und Antideutschen so sehr die Nase rümpfen, der erstere in meiner.

Aus beiden ist die Gefahr des Faschismus unschwer zu extrahieren. Um das Geschehene zu verdecken, entwirft und performt die Täterin oder der Täter Fremdbedrohungsszenarien, in denen sie zum Opferschutz gegen einen übermächtigen Feind ankämpfen (der im zweiten Falle z.B. die Verwestlichung der Gesellschaft oder die Emanzipation der Frau sein mag). Jeder Versuch, der tatsächlichen Begebenheit auf den Grund zu gehen, wird mit einem Zeter und Mordio beantwortet, dessen männlich-nationalpolitischer Name der Revanchismus wäre (auch seitens des Islams an den Fremdmächten, welche die einstige Glorie zerstörten).

Was tun Sie, wenn Sie aus der Klinik entlassen werden und am Telefon den Revanchismus haben, der sich erkundigt, wie es Ihnen geht?

Interessanter aber ward es, den Täterstatus der Frau von der Körtestraße einmal von persönlichen und politischen Festlegungen zu lösen. Anstelle des Kampfes einer wirklichen Frau gegen imaginäre Täter den einer imaginären Frau gegen wirkliche Täter zu setzen: Nina Simone zeichnet in ihrer Interpretation der Brechtschen Seeräuber-Jenny eine solch krude Gewaltphantasie, wie sie auf den Straßen Kreuzbergs gar keinen Platz finden würde. Welch differenzierte Beobachtung von Frauen mit gnuhaft vorgebeugten Hälsen steht hinter ihrer Einspielung, welche trunkenen Erlebnisse vor Berliner Straßenlokalen mögen in die Abfassung des Textes eingeflossen sein (man stelle sich den Autor als den Mann vor, der zigarrerauchend grummelt, sie möge verschwinden, und dann doch aufschreckt, als sie ihm ruhig und bitterböse entgegnet, sie glaube gar nicht, es sei ihm scheißegal), bis das Bild von einer Reinigungskraft entstehen konnte, deren phantasmagorisches Ich-Ideal darin besteht, eine zerstörerische Korsarenflotte zu befehligen? Daß ein Wachtraum emanzipatorischer Ausbruchswünsche darin liegt, wie er auch die Schlußsequenz von Antonionis Zabriski Point prägt, ist der Größe der epischen Methode Brechts verschuldet. Daß er sich auf die uneingelösten Hoffnungen afroamerikanischer Frauen bezieht, die in der Bürgerrechtsbewegung mitschwangen, einem Kunstgriff Nina Simones zu verdanken: aus den Lumpen im lumpigen Hotel wird ein "crummy Southern town", ein Adjektiv, das im Kontext von Simones Werk ausreicht, um Diskriminierung, Bigotterie und patriarchale Rückständigkeit bis hin zur Legitimierung von Sklaverei und Lynchmorden zu evozieren. So funktionieren gute Metonymien. Kontextualisierung als transkulturelle Translationsleistung

Ein Idealfall für Übersetzungstheoretiker.

Die Frau gestern Abend war eigentlich nur eine Seeräuber-Jenny. Und ein Real-Life-Avatar von Cindy Sherman. Und eine Performance, die sich mit Pädophiliediskursen auseinandersetzt. Dies denkend, kann ich heut Nacht bestimmt wieder schlafen.

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